MODISCH, PRAKTISCH, GUT. Warum die Mode jetzt Lust auf das Praktische hat // FAZ.NET

Erschienen am 21. Mai 2019 auf FAZ.NET/Stil

Cargohosen, Anglerweste, Boilersuit: In diesem Jahr dreht sich alles um Funktionskleidung. Woher rührt der Reiz am Praktischen? Geht es um Bodenständigkeit oder um das Bedürfnis nach Entschleunigung?

Was praktisch war, galt modisch lange als verpönt. Die Jack-Wolfskin-Jacke war mindestens so sehr antiästhetisches Statement wie der Gürtel mit Handyhalterung oder die Trekkingsandalen. Für die Sommersaison 2019 hat die Modewelt genau diese Funktionalität jetzt aber für sich entdeckt. Auf allen Laufstegen von Paris bis Mailand: Utility Wear. Cargohosen bei Fendi, Odeeh, Alexander Wang und Tibi. Boilersuits bei Isabel Marant, Ganni und Givenchy. Anglerwesten bei Prada, Chanel und Hilfiger Denim. Dazu Safari-Jacken, Fischerhüte und Steppparka. Die Materialien vorzugsweise Kord, Denim oder feste Baumwollstoffe, teils auch natürliches Leinen oder wasserabweisendes Polyester. Selten schmuggeln sich erlesene Seide (Hermés) und glattes, schimmerndes Leder (Celine) dazwischen. Die Farben sind gedeckt. An Beige kommt 2019 niemand vorbei. Getragen wird es vorzugsweise in der Kombination mit Dunkelblau, Olivgrün oder Weiß.

Simpel, schlicht und maskulin

Googelt man nach dem Begriff „Utility Wear“ stolpert man zunächst über Schlagworte wie „Understatement“ „Easy-to-Wear“ oder „Active Wear“, um dann schnell bei Wikipedia zu landen, wo „Utility Clothing“ als Maßnahme der britischen Regierung aus dem Jahr 1941 beschrieben wird, um während des Kriegs mit der Problematik verknappter Ressourcen umzugehen. Unter dem Kürzel CC41 (Civilian Clothing 1941) wurde erschwingliche, eher uniforme Kleidung von geringer Qualität produziert. Als Stoff fungierte häufig recycelte Arbeitskleidung.

Auch Cargohosen stammen aus England zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die großen Taschen sollten es Soldaten ermöglichen, wichtige Dinge mit sich zu tragen. In den achtziger Jahren mauserte sich die praktische Hose dann zur idealen Kleidung für waschechte Outdoor-Männer, ehe sie in den neunziger Jahren einen ersten großen Hype erlebt.

Der Boilersuit findet zum ersten Mal um 1928 Erwähnung. Auch der lockere Einteiler richtete sich zunächst ausschließlich an Männer und fungierte als sowohl klassischer Arbeitskleidung, etwa für Mechaniker, und Uniform für Air Force Piloten. Die Anglerweste taucht verhältnismäßig spät auf der Bildfläche auf. 1960 wird sie von der Hutfabrikantin Gertrude Boyle, Tochter eines jüdischen Ehepaars, das 1938 vor den Nazis von Augsburg nach Portland flieht, erfunden. Vor allem in den Vereinigten Staaten wird die praktische Weste schnell zum Erfolgsschlager und begründet ein Unternehmen, das 50 Jahre später noch immer zu den führenden in der Outdoorbranche zählt.

Warum diese Infos wichtig sind? Sie verdeutlichen, was diesen Kleidungsstücken in erster Linie gemeinsam ist: Sie alle sind aus Pragmatismus und Nützlichkeit entstanden. Und sie richteten sich primär zunächst ausschließlich an Männer. Man könnte auch sagen, der aktuelle Trend zur Utility Wear vereint Vernunft und (männliches) Arbeitsethos in textiler Perfektion. Und was wäre im Bauhausjahr ein besserer thematischer Überbau als das Prinzip „Form Follows Function“?

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